10.4 Schwierige Bewertung durch Mehrdimensionalität der Nachhaltigkeit
Ein weiterer Aspekt, der dazu beiträgt, dass der Begriff «Nachhaltigkeit» und seine Auslegung immer wieder zu Verwirrung führt, ist der Umstand, dass es sich um einen sehr generischen Begriff handelt. Er wurde in Form der Brundtland-Definition erstmals an der Rio-Umweltkonferenz 1990 für übergeordnete umwelt- und gesellschaftsbezogene Ziele festgelegt. Die Schweizer Regierung versteht nachhaltige Entwicklung folgendermassen: «Eine nachhaltige Entwicklung ermöglicht die Befriedigung der Grundbedürfnisse aller Menschen und stellt eine gute Lebensqualität sicher, überall auf der Welt sowohl heute wie auch in Zukunft. Sie berücksichtigt die drei Dimensionen – ökologische Verantwortung, gesellschaftliche Solidarität und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit – gleichwertig, ausgewogen und in integrierter Weise und trägt den Belastbarkeitsgrenzen der globalen Ökosysteme Rechnung.»1
Mit den SDGs hat die globale Staatengemeinschaft 2015 17 global anerkannte Ziele für eine nachhaltige Entwicklung für Staaten gesetzt, die in 169 Unterzielen präzisiert wurden. Der Bundesrat zieht die SDGs als Referenzrahmen für die Umsetzung der Schweizer Nachhaltigkeitsstrategie heran. Die 17 SDGs wurden – wohl auch mangels einer anderen global anerkannten Definition von Nachhaltigkeit – seither zunehmend auch im Wirtschaftsumfeld als Schema herangezogen um auszuweisen, zu welchen globalen Nachhaltigkeitszielen ein Unternehmen oder ein Anlageprodukt beiträgt. Dabei wenden die Nutzer jeweils eigene Operationalisierungen an, das heisst, sie definieren basierend auf eigenem Ermessen, wann eine Geschäftstätigkeit eines der 17 Nachhaltigkeitsziele fördert.
Weil das Konzept der Nachhaltigkeit aus vielen Dimensionen besteht, die in unterschiedlichen Einheiten gemessen werden, bedingt eine übergeordnete Nachhaltigkeitsbewertung zwingend eine Gewichtung der einzelnen Dimensionen. Diese Gewichtung lässt sich nicht unabhängig von Werten festlegen. Je nach kulturellem und gesetzlichem Rahmen werden solche Gewichtungen also anders ausfallen. Es gibt folglich auch nicht eine korrekte Bewertung der Nachhaltigkeit eines Unternehmens, eines Landes oder einer anderen Organisation. Die unterschiedliche Gewichtung, die ihrerseits von den zugrunde liegenden Zielen einer Nachhaltigkeitsbewertung abhängt, führt auch zu den – oft kritisierten, jedoch aus dieser Perspektive nachvollziehbaren – Unterschieden in den Nachhaltigkeitsbewertungen oder -ratings von Unternehmen, Ländern oder anderen Organisationen.
Die Tatsache, dass zwischen verschiedenen Nachhaltigkeitsdimensionen Zielkonflikte bestehen, erschwert eine einheitliche bzw. starre Definition von Nachhaltigkeit zusätzlich. Beispielsweise können gute Mitarbeiterbedingungen Kosten verursachen, wodurch weniger Mittel für Investitionen in umweltfreundliche Produktionsprozesse zur Verfügung stehen. Auch vor diesem Hintergrund kommt man nicht umhin, verschiedene Ziele basierend auf konkreten Werten zu gewichten.
Wenn also Rating-Anbieter oder Banken nicht zum gleichen Schluss kommen, welche Unternehmen besonders nachhaltig sind und folglich in einen nachhaltigen Fonds gehören, hat das einerseits damit zu tun, dass die verschiedenen Nachhaltigkeitsthemen unterschiedlich gewichtet werden und andererseits damit, dass unterschiedliche Anlegermotivationen ins Zentrum gestellt werden (z. B. Wertefokus und damit möglichst sauberes Portfolio oder Wirkungsfokus und damit breitere Investition auch in weniger nachhaltige Firmen, aber aktive Einflussnahme). Eine klare Kommunikation zu den Zielen eines nachhaltigen Finanzprodukts und zur Zielerreichung ist daher unerlässlich – und ein wichtiger Ansatzpunkt zur Vermeidung von Greenwashing.
1 | Nachhaltigkeitsverständnis in der Schweiz, https://www.are.admin.ch/are/de/home/nachhaltige-entwicklung/nachhaltigkeitspolitik/nachhaltigkeitsverstaendnis-in-der-schweiz.html |