4.4 Sorgfalts- und Transparenzpflichten im Zusammenhang mit Konfliktmineralien und Kinderarbeit gemäss Art. 964j-l OR
4.4.1 Unternehmen im Anwendungsbereich
Die neuen Sorgfaltspflichten in Bezug auf die Lieferkette und die besonderen Berichterstattungspflichten in Bezug auf die Verhinderung von Kinderarbeit und die ethische Beschaffung von Konfliktmineralien, wie sie in Art. 964j-l OR definiert sind, gelten für Unternehmen, deren Sitz, Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung sich in der Schweiz befindet, wenn sie:
- Zinn, Tantal, Wolfram oder Gold enthaltende Mineralien oder Metalle aus Konflikt- und Hochrisikogebieten in den freien Verkehr der Schweiz überführen oder in der Schweiz bearbeiten oder
- Produkte oder Dienstleistungen anbieten, bei denen ein begründeter Verdacht besteht, dass sie unter Einsatz von Kinderarbeit hergestellt oder erbracht wurden. Die Unternehmen müssen nachweisen, dass sie die erforderliche Überprüfung durchgeführt haben, um festzustellen, ob ein solcher Verdacht in Bezug auf ihre Produkte oder Dienstleistungen gerechtfertigt ist.
Unter Art. 964j-l OR fallen neben einem schweizerischen Konzern auch alle schweizerischen direkten und indirekten Tochtergesellschaften eines ausländischen Mutterunternehmens, jeweils jedoch nur, wenn sie die oben genannten Voraussetzungen erfüllen. Schweizerische Holdinggesellschaften fallen im Allgemeinen nicht unter Art. 964j-l OR. Ausserdem gelten die neuen Sorgfaltspflichten in Bezug auf die Lieferkette und die besonderen Berichterstattungspflichten nicht auf konsolidierter Basis, d. h. sie gelten nur für jenes Unternehmen innerhalb einer Gruppe, welches die entsprechenden Kriterien erfüllt.
Unternehmen mit Sitz im Ausland könnten in den Anwendungsbereich der neuen Verordnung fallen, wenn sich ihre Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung in der Schweiz befindet. Der Begriff «Hauptverwaltung» bezieht sich auf den Ort, an dem die Geschäftsleitung des Unternehmens angesiedelt ist. Als «Hauptniederlassung» gilt der Ort, an dem ein erkennbarer, tatsächlicher Schwerpunkt der Geschäftstätigkeit besteht.
Die neuen Bestimmungen über Kinderarbeit sind nicht auf das Angebot von Produkten oder Dienstleistungen in der Schweiz beschränkt. Wenn ein Unternehmen seinen Sitz, seine Hauptverwaltung oder seine Hauptniederlassung in der Schweiz hat und Produkte und/oder Dienstleistungen nur im Ausland anbietet, z. B. über ausländische Tochtergesellschaften oder Drittvertriebsunternehmen, gelten dennoch die neuen Bestimmungen über Kinderarbeit.
4.4.2 Ausnahmeregelungen
Ausnahmen von den Sorgfaltspflichten für Konfliktmineralien und -metalle gelten für Unternehmen, die auf konsolidierter Basis bestimmte Einfuhrschwellen für Konfliktmineralien und -metalle nicht erreichen. Für Unternehmen, die zwar den Schwellenwert erreichen, aber nur recycelte Konfliktmineralien oder -metalle einführen oder verarbeiten, gelten nur begrenzte Sorgfaltspflichten.1
Von der Sorgfaltspflicht in Bezug auf Kinderarbeit befreit sind (i) Unternehmen, bei denen das Risiko von Kinderarbeit in der Lieferkette als gering eingestuft wird, weil sie in Ländern, deren «Due diligence response» von der UNICEF in ihrem Children’s Rights in the Workplace Index als «Basic» eingestuft wird, Produkte gemäss Herkunftsangabe beziehen oder herstellen oder Dienstleistungen schwerpunktmässig beziehen oder erbringen sowie (ii) kleine oder mittlere Unternehmen (KMU). KMU sind definiert als Unternehmen, die zwei der folgenden drei Kriterien (bei Beurteilung zusammen mit den von ihnen kontrollierten Unternehmen) in zwei aufeinanderfolgenden Geschäftsjahren unterschreiten:
- Bilanzsumme von 20 Millionen CHF
- Umsatzerlös von 40 Millionen CHF und
- 250 Vollzeitstellen im Jahresdurchschnitt
Besteht jedoch die Gefahr, dass Kinderarbeit involviert ist, sind die beiden oben genannten Ausnahmen nicht möglich, unabhängig von der UNICEF-Einstufung und davon, ob das Unternehmen die Kriterien eines KMU erfüllt. Die Ausnahmen für KMU und Unternehmen mit geringen Risiken im Bereich Kinderarbeit gelten nur für die Sorgfaltspflichten, sodass ein KMU, das Mineralien aus Konflikt- oder Hochrisikogebieten einführt (in einer Menge, die über der Ausnahmeregelung für die Einfuhrschwelle liegt), nach wie vor Artikel 964j-l OR unterliegt (d. h. in den Anwendungsbereich fällt). Es gelten keine branchenspezifischen Ausnahmen.
Es gibt eine allgemeinere Ausnahmeregelung für Unternehmen, die gleichwertige, international anerkannte Rahmenwerke einhalten, z. B. die OECD-Leitlinien zur Sorgfaltspflicht bei der Förderung verantwortungsvoller Lieferketten für Mineralien und die IAO-Übereinkommen Nr. 138 und 182. Um in den Genuss dieser Ausnahmeregelung zu kommen, müssen die Unternehmen in einem öffentlichen Bericht den entsprechenden internationalen Rahmen benennen und anstelle der Artikel 964j ff OR die Vorschriften dieses Rahmens in ihrer Gesamtheit anwenden (siehe Anhang 2 der VSoTr).
4.4.3 Sorgfaltspflichten
Zu den in Artikel 964j OR und der VSoTr definierten Sorgfaltspflichten gehören:
- Einführung eines Managementsystems, das insbesondere eine Lieferkettenpolitik umfasst, die sich mit (y) möglichen Konfliktmineralien und/oder (z) Produkten/Dienstleistungen befasst, die möglicherweise Kinderarbeit beinhalten und (ii) die die Instrumente nennt, mit denen das Unternehmen die Risiken möglicher schädlicher Auswirkungen in seiner Lieferkette ermittelt, bewertet, beseitigt oder mindert (Durchführung von Kontrollen vor Ort, Einholung von Informationen bei Behörden, internationalen Organisationen und der Zivilgesellschaft, Konsultation von Experten und Fachliteratur, Einholung von Zusicherungen von Wirtschaftsbeteiligten in der Lieferkette und anderen Geschäftspartnern unter Verwendung anerkannter Standards und Zertifizierungssysteme);
- Einführung eines Systems zur Rückverfolgbarkeit der Lieferkette;
- Einführung eines Meldeverfahrens, das allen interessierten Personen ermöglicht, Bedenken hinsichtlich Konfliktmineralien oder Kinderarbeit zu äussern;
- Kommunikation der Lieferkettenpolitik gegenüber der Öffentlichkeit und den Lieferanten
- Bewertung der Risiken in Bezug auf negative Auswirkungen von Konfliktmineralien oder Produkten, bei denen das Risiko von Kinderarbeit in der Lieferkette besteht;
- Ausarbeitung eines Risikomanagementplans zur Bewältigung dieser Risiken, einschliesslich Massnahmen zur Risikominderung und Einrichtung eines Beschwerdeverfahrens;
- Wirksame Dokumentation dieser Verfahren.
4.4.4 Bericht über die Umsetzung der Sorgfaltspflichten
Nach den neuen Vorschriften müssen Unternehmen, die der Sorgfaltspflicht unterliegen, jährlich über die Erfüllung dieser Sorgfaltspflicht berichten. Es ist keine Zustimmung der Aktionäre erforderlich.
Wird eine schweizerische Gesellschaft von einer juristischen Person mit Sitz im Ausland kontrolliert und erstellt diese juristische Person einen Bericht, der den Anforderungen des schweizerischen Rechts gleichwertig ist, so ist die schweizerische Gesellschaft von dieser besonderen Berichterstattungspflicht befreit. Hinsichtlich der Gleichwertigkeit gibt es keine Vorgaben. Eine Berichterstattung im Rahmen der EU-Verordnung über Mineralien aus Konfliktgebieten wird wahrscheinlich als gleichwertig angesehen, die Berichterstattung auf dem Formular SD nach den geltenden US-SEC-Vorschriften hingegen nicht, da der Geltungsbereich dieser Vorschriften geografisch viel begrenzter ist als der weltweite Geltungsbereich der Schweizer Vorschriften.
Ist ein berichtspflichtiges Unternehmen verpflichtet, eine konsolidierte Jahresrechnung zu erstellen, muss es auch einen konsolidierten Bericht erstellen. Jedes Unternehmen, das in einen konsolidierten Bericht einbezogen wird, ist von der Erstellung eines eigenen Berichts befreit. Da es sich bei vielen Konzernobergesellschaften um Holdinggesellschaften handelt, dürften die praktischen Auswirkungen dieser konsolidierten Berichtspflicht begrenzt sein. Wenn die Konzernobergesellschaft einen konsolidierten Bericht erstellt, auch wenn dies nicht gesetzlich vorgeschrieben ist, sollte die Befreiung ebenfalls gelten.
4.4.5 Prüfungspflicht
Gemäss Art. 964k Abs. 3 OR muss die Einhaltung der Sorgfaltspflichten bezüglich der Mineralien und Metalle durch eine unabhängige Fachperson geprüft werden. Es besteht keine Prüfungspflicht in Bezug auf die Einhaltung der Sorgfaltspflichten in Bezug auf Kinderarbeit.
Gemäss Art. 16 Abs. 1 VSoTr muss die Revision durch ein zugelassenes Revisionsunternehmen durchgeführt werden, der die Anforderungen an die Unabhängigkeit der Revisionsstelle gemäss Art. 728 OR erfüllt. Die Prüfgesellschaft muss nicht zwingend die Revisionsstelle sein. Die Prüfgesellschaft prüft, ob Sachverhalte vorliegen, aus denen zu schliessen ist, dass die Sorgfaltspflichten gemäss Art. 964k Absätze 1 und 2 OR nicht eingehalten wurden (negative Zusicherung, vgl. Art. 16 Abs. 2 VSoTr).
4.4.6 Veröffentlichung des Berichts
Der Bericht ist unmittelbar nach seiner Genehmigung elektronisch zu veröffentlichen und muss mindestens zehn Jahre lang zugänglich bleiben.
1 | Siehe Anlage 1 zur VSoTr und Art. 12 Abs. 3 VSoTr. |